Schamanisch-buddhistische Überlegungen
zur Bedeutung der Tiere
Tiere gelten als triebhaft,
unbewusst, beschränkt - als minderwertige Wesen, denen wir höchstens mit etwas
Mitgefühl begegnen. Für Schamanen dagegen sind Tiere Botschafter eines höheren
Bewusstseins, sie sind heilende, kraftspendende Wesen, von denen wir Menschen
lernen können.
Zunächst kurz etwas zum Verhältnis Schamanismus und Buddhismus.
Für manche mag zwischen beiden religiösen Systemen ein Gegensatz bestehen, für
manche mag Schamanismus archaisch, animalisch, totemistisch etc. sein, lauter
Eigenschaften, die der Buddhismus hinter sich gelassen hat. Man kann das so
sehen.Allerdings nimmt man sich damit die Möglichkeit, die der Schamanismus
zu bieten hat: ein tiefes, enges, mit- und einfühlendes Verhältnis zur ganzen
Natur, zum ganzen Kreis der Natur zu entwickeln. Meiner Ansicht nach ist gerade
Letzteres für die zukünftige Entwicklung des Menschen wichtig. Schamanisches
und Buddhistisches müssen keinen Gegensatz bilden, sondern können sich sehr
gut ergänzen, wobei ich den Unterschied in der Weise herausstellen würde, dass
der Schamanismus mehr das Miteinander mit der ganzen Natur, Steine, Tiere, Pflanzen,
Berge, Flüsse, Meere etc. - und der Buddhismus mehr die geistige Weiterentwicklung
und Entfaltung des Bewusstseins betont, wobei dieser Aspekt im Schamanismus
aber auch angelegt ist.
Spiegel des menschlichen Bewusstseins
Tiere - und das gilt für die ganze Natur - können
als Projektionsfläche oder als Spiegel des menschlichen Bewusstseins angesehen
werden. Der Mensch kann das Tier als Monster, als Bestie, als minderwertig,
triebhaft, instinkthaft, unbewusst etc. begreifen. Das sagt dann aber oft mehr
über den Menschen als über die Tiere aus. Der Mensch kann sich, entsprechend
einer Abgrenzungslogik, vom Tier abgrenzen und sich dann selbst "animal
rationale" nennen. Wenn es uns auf der Erde in Zukunft darauf ankommt,
mehr das Miteinander zu betonen, dann sollten wir diese Abgrenzungslogik überwinden,
denn darin zeigt sich ein beschränktes, weil schematisch denkendes Bewusstsein.
Ein integrales Bewusstsein - und der Schamanismus hat dieses immer angezielt
- sieht und erkennt durchaus Differenzen und Unterscheide, aber genauso die
Gemeinsamkeit.
Der Schamanismus sieht Tiere grundsätzlich eher positiv: als Lebewesen, sogar
als Persönlichkeiten, die andere, besondere Fähigkeiten haben, von denen wir
lernen können. Für den Schamanen sind Tiere Träger eines durchaus höheren Bewusstseins.
Sie werden als Botschafter einer höheren Dimension gesehen. Welche genau gemeint
ist oder welcher Bereich, das hängt von den einzelnen Tieren und von dem Schamanen
ab, wie er mit den einzelnen Tieren umgeht. Es gibt kein allgemein verbindliches
Klassifizierungssystem - wozu auch, kommt es doch auf die individuelle und kreative
Gestaltung an. In der multidimensionalen und polyvalenten Welt des Schamanen
gibt es immer verschiedene Möglichkeiten der Interpretation. So kann z.B. der
Adler als Repräsentant des Dharmakaya gesehen werden oder der Luchs als Repräsentant
des Mitgefühls und Einfühlungsvermögens, der Rabe kann für die Weisheit des
Unterscheidungsvermögens stehen, der Puma für Schönheit, Gleichgewicht und Harmonie.
Von Tieren Lernen
Ich denke, dass man in einer
multikulturellen und interkulturellen, global denkenden Welt viele Wege und
Deutungen zulassen sollte, und das bedeutet auch die Verbindung zwischen verschiedenen
Traditionen. Tatsache ist, dass es im tibetischen Buddhismus eine Vielzahl schamanischer
Elemente gibt - man betrachte z.B. die elementare, archaische Musik oder das
Chöd-Ritual. Für die Zukunft, denke ich, kann man, gerade was Tiere, Pflanzen,
Steine etc. betrifft, schamanisches Mitgefühl und Einfühlungsvermögen durchaus
wieder neu aktivieren.
Wenn Tiere als Botschafter einer höheren Dimension des Daseins begriffen werden,
dann besteht für uns die Möglichkeit, von ihnen zu lernen. Begreifen wir sie
dagegen als minderwertig, ist die logische Konsequenz letztendlich, dass wir
sie nur für unsere ökonomischen und sonstigen Zwecke benutzen. Welche gewalttätige
und destruktive Welt damit geschaffen wurde, können wir jeden Tag sehen. Ein
ästhetisches Verhältnis oder ein abstrakt respektierendes, so gut gemeint es
auch immer sein mag, scheint mir nicht auszureichen. Der tiefe Respekt, die
tiefe Achtung und Wertschätzung kommt im Schamanischen ja gerade dadurch, dass
das Tier als heiliges, heilendes, kraftspendendes Wesen angesehen wird.
Was dem Menschen in seiner zerrissenen, chaotischen, aggressiven, geistig beschränkten
Situation fehlt, ist ja gerade die heilende Ganzheit, die geistige Freiheit
und Souveränität - also das leuchtende, erleuchtete Sein. Für den Schamanen
spiegeln sowohl die konkret existierenden Tiere als auch die geistigen Kraft-Tiere
eben diese uns fehlenden Möglichkeiten. Das bedeutet nicht, dass der Schamane
nicht auch deutlich sieht und erkennt, dass Tiere außerdem beschränkt und eingeschränkt
sind, also primitive Energien und Zustände repräsentieren. Da aber mehr der
positive Aspekt betont wird, kann vom Tier mehr gelernt werden: z.B. über bescheidenes,
demütiges Verhalten, über die Integration in den Kreislauf der Natur, über den
Respekt und die Achtung der ganzen Natur und anderer Lebewesen und schließlich
auch über die geistige Befreiung und Erleuchtung.
von Wolf E. Matzker (veröffentlicht in den LOTUSBLÄTTERN, Ausgabe 2/2000)